Rotkäppchen goes West (Nr. 29)
Märchenstunde goes jüngere Deutsche Geschichte: Eine paranoide Schülerin, die mit Vorliebe eine rote Kappe trägt; ein staatstreuer Rentner, der sie argwöhnisch beobachtet; sein Enkel, der sich in das Mädchen verliebt; und ein Stasi-General, der kein Pardon kennt … Wer wissen will, wie Rotkäppchen anno 1984 den weiten Weg aus der DDR zu ihrer Großmutter in den Westen findet, ist in dieser Geschichte gut aufgehoben!
Leseprobe
Gerade bin ich noch durchs Haus gelaufen und hab alle Vorhänge zugezogen, damit man mich in der anbrechenden Dunkelheit nicht so gut sieht. Auf dem Tisch liegt das Päckchen, das heute angekommen ist. Es ist wie immer in schlichtes, braunes Packpapier gewickelt. Meine Großmutter schickt mir immer was aus dem Westen, sie ist die einzige Familie, die ich noch habe, leider hab ich sie noch nie gesehen. Als ich das Päckchen heute früh reingeholt habe, stand Herr Schulz von nebenan in seinem Vorgarten und hat mich schräg angeschaut. Ich glaube, er hat was gegen mich, gestern Nachmittag zum Beispiel habe ich ihn dabei erwischt, wie er in meinem Briefkasten herumgeschnüffelt hat. Ich mag ihn nicht. Vielleicht sollte ich zu Polizei gehen, aber meine Mutter meinte früher immer, denen sei nicht zu trauen. Damals waren wir noch zu dritt. Dieses Mal hat Großmutter zusätzlich noch ein Foto dazugetan. Normalerweise sind in dem Päckchen nur Dinge wie Kaffee, Schokolade, Seidenstrumpfhosen (die kann ich später verkaufen) und ein kurzer Brief, in dem sie sich erkundigt, wie es mir geht. Auf dem Foto sieht man Mutter und Vater auf ihrer Hochzeit, Mutter trägt ein wunderschönes, schlichtes weißes Kleid und hält eine Primel in der Hand. Vater ist ganz in schwarz gekleidet, nur sein Hemd leuchtet blütenweiß.